Die Universalbibliothek – Teil 2 (und zu Ende gedacht)

Vorbemerkung: Eine meiner Lieblingsgeschichten stammt von dem deutschen Schriftsteller Kurd Laßwitz (1848 – 1910), der oft auch als „Vater der deutschen Science Fiction“ bezeichnet wird. Zu seinen wichtigsten Werken gehört der umfangreiche Roman „Auf zwei Planeten“ . Daneben hat Laßwitz auch viele Kurzgeschichten verfaßt, von denen „Die Universalbibliothek“ zu den bekanntesten gehört und auch in verschiedenen Anthologien veröffentlicht wurde.

Ich habe mir erlaubt, eine Fortsetzung dazu zu verfassen, die ich hiermit online stelle. Um sie zu verstehen, empfehle ich dringend, Laßwitz‘ Erzählung vorher zu lesen, falls man sie noch nicht kennt. Diese Fortsetzung hier schließt nahtlos an das von Laßwitz in seiner Geschichte geschilderte Gespräch an.

Und nun zu unserer Geschichte.

Für eine ganze Weile herrschte Schweigen. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach, die wohl um die Universalbibliothek und ihre Geheimnisse kreisen mochten.

Es war Susanne, die schließlich das Schweigen brach: „Ich verstehe ja nun, daß man auch für die kurzen Texte immer einen ganzen Band benötigt. Und umgekehrt, daß für ein sehr langes Buch ein Band nicht ausreichen mag, so daß man die Fortsetzung in einem weiteren Bande suchen muss. Aber wäre es da nicht besser, die Bände länger zu machen, so daß mehr Platz darin ist? Dann könnte man zwei, drei oder noch mehr Fortsetzungen darin unterbringen und die Bibliothek müsste dann vielleicht doch nicht so schrecklich viele Bände enthalten – “

„Sehr richtig, Fräulein Briggen“, ließ Burkel sich vernehmen. „Es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir die Bibliothek nicht noch ein wenig verkleinern könnten.“

„Freut Euch nicht zu früh. Auch hier hat die Sache einen Haken“, antwortete der Professor. „Aber wir wollen einmal sehen, was dabei herauskommt.“ Mit diesen Worten zog er den Bogen Papier wieder zu sich heran und begann, seine vorherige Rechnung ein wenig abzuändern.

„Setzen wir einmal für die Anzahl der Stellen in einem Bande den doppelten Wert ein. Das ergibt sich beispielsweise durch eine einfache Verdoppelung der Seitenzahl, indem wir also statt wie vorher 500 nun 1000 Seiten pro Band zulassen. Das bedeutet einen Faktor 2 im Exponenten, wenn man die Anzahl der Bände ausrechnet. Diese ist nun – hmm“, der Professor räusperte sich, „leider wieder sehr stark angewachsen. Die Zahl beträgt jetzt 104000000.“

Seine drei Zuhörer waren sprachlos. Mit diesem Ergebnis hatte niemand gerechnet. Wie konnte das sein? Durch Verdoppelung des Umfangs eines Bandes sollte sich die Anzahl der Bände so sehr vergrößern? Nicht mal einfach verdoppeln, sondern statt einer Eins mit zwei Millionen Nullen jetzt eine Eins mit vier Millionen Nullen?

Selbst dem Professor Wallhausen hatte es für einen Moment die Sprache verschlagen. Mathematisch war ihm die Sache klar, aber wie konnte man so etwas anschaulich erklären?

„Darauf brauche ich aber noch ein Kulmbacher“, ließ sich Redakteur Burkel als erster vernehmen. „Das ist schon ein starkes Stück, welches Du uns hier auftischst, mein lieber Freund!“

„Rechne es nur nach“, sagte der Professor. „Ich gebe zu, es klingt paradox. Lasst uns mal in Ruhe überlegen. Du hattest vorhin einmal eine sehr aufschlußreiche Bemerkung kundgetan. Nämlich die Sache mit der Fortsetzung in einem oder mehreren weiteren Bänden. Man übersieht dabei leicht, dass so ein Fortsetzungsband, der zu einem Buche gehört, welches aus mehreren Bänden besteht, auch mehrmals verwendet werden kann oder sogar werden muss.“

„Was meinst Du damit, Onkel?“ fragte Susanne. „Warum sollte man einen Band mehrfach verwenden?“ Sie schenkte den Männern neues Bier ein und beschloß für sich, daß ein kleines Glas Wein auch ihr nicht schaden würde.

„Nun“, der Professor sprach weiter, „betrachten wir doch einmal einen beliebigen Roman, der sich über zwei Bände erstreckt und somit in unserer Bibliothek, wie wir sie zuerst angenommen haben, eine Länge von 1000 Seiten hat. Dieser Roman ist in der Bibliothek zweifellos in sehr vielen verschiedenen Lesarten oder Varianten enthalten. Es genügt für unsere Zwecke aber vollkommen, wenn wir der Einfachheit halber annehmen, daß es pro Band jeweils 10 Varianten geben soll – “

„Ich verstehe jetzt“, fiel Burkel ein. „Wir brauchen also jeden Band zehnmal, für jede Variante einmal. Bei einem Umfang von zwei Bänden für unseren Roman macht das… Moment… genau 20 Bände!“ Stolz lehnte er sich zurück und nahm einen großzügigen Schluck Kulmbacher zu sich.

„So ist es“, sprach der Professor. „Und wenn wir nun – “ hier wurde er von Susanne Briggen unterbrochen, die aufgeregt rief: „Ich hab’s! In unserer neuen Bibliothek, also in der mit den jetzt 1000 Seiten starken Bänden, muss der Roman ja auch sämtliche Varianten enthalten, und da benötigen wir – “, sie zögerte und versuchte wieder einmal, ihre Haarsträhnen unter Kontrolle zu bringen, „ – auch 20 Bände -, aber das kann doch nicht stimmen – “.

„Leider nein“, sagte ihr Onkel, „doch das werden wir gleich haben. Ihr müsst bedenken, daß wir hier nicht die Varianten einzeln betrachten, sondern auch alle möglichen Kombinationen zu berücksichtigen haben. In den ersten 500 Seiten muss jede der zehn Varianten mit jeder einzelnen Variante der zweiten 500 Seiten verknüpft werden. Mathematisch lässt sich das viel einfacher ausdrücken, denn es gilt hier, dass die Zahl der Bände gleich 10 mal 10, also 102 ist, das ergibt also 100 Bände für unseren Roman, wenn alle Varianten vorkommen sollen.“

Und er fuhr fort: „Das bedeutet nämlich, dass wir in der ursprünglichen Bibliothek mit 500 Seiten je Band für unseren Roman mit 20 Bänden auskommen, mathematisch gesprochen 10 mal 2, während wir dagegen in der neuen Bibliothek, die eine Bandstärke von 1000 Seiten hat, gleich 100 Bände benötigen, mathematisch hier 10 hoch 2! Und das hängt damit zusammen, dass wir die einzelnen Bände in dem ersteren Falle eben mehrfach verwenden können, natürlich ohne sie mehrfach zu zählen, denn es soll ja jeder Band in der Bibliothek nur genau einmal vorkommen.“

„Ja, Du und Deine Mathematik! Damit kannst Du alles beweisen, wenn Du willst!“ rief Burkel, dem das Kulmbacher mittlerweile ein wenig zu Kopfe gestiegen war. „Aber erkläre es doch mal uns Sterblichen hier!“

„Aber das hat er doch gerade getan“, kam nun die Frau Professor zu Hilfe, und auch Susanne nickte fleißig.

„Gut“, beruhigte sich Burkel, nachdem er ein wenig nachgedacht hatte. „Ich glaube, nun verstehe ich es auch langsam. Aber sag doch mal, wie ist es denn andersherum? Wir haben uns überlegt, was passiert, wenn wir den Umfang eines Bandes der Bibliothek verdoppeln oder jedenfalls vergrößern und haben das erstaunliche Ergebnis erhalten, daß die Zahl der Bände daraufhin um ein Vielfaches anwächst. Aber was, wenn wir es einmal umgekehrt machen? Sagen wir einmal, wir verringern den Umfang um – hmm – das zehnfache? Das wären dann 50 Seiten pro Band?“

Der Professor schmunzelte. „Genau das wollte ich auch gerade vorschlagen. Machen wir mal ein Gedankenexperiment – so würde mein Freund Einstein es nennen. Wir nehmen also an, daß jeder Band unserer Bibliothek nur noch 50 Seiten statt 500 haben soll. Alles andere bleibt wie es ist – wo ist denn mein Papier hin verschwunden?“

„Vermutlich liegt es bei den jetzt fehlenden 450 Seiten – “ murmelte Burkel, doch das konnte sein Freund nicht hören.

„Ich fürchte, die Nußschalen liegen darauf“, erklärte Susanne verlegen und war ausnahmsweise einmal froh, sich mit ihren widerspenstigen Haaren beschäftigen zu können.

„Das macht nichts, für eine so einfache Rechnung brauche ich kein Papier“, erklärte ihr Onkel. „Wir haben nun keine 1 000 000 Stellen mehr in einem Bande zur Verfügung, erst recht keine 2 000 000 wie vorhin, als wir den Band verdoppeln wollten. Statt dessen haben wir nun 100 000 Stellen, in denen wir unsere 100 Zeichen unterbringen können. Das ergibt dann für die Anzahl der Bände eine 1 mit 200 000 Nullen, anders ausgedrückt: Zehn hoch Zweihunderttausend.“

„Aber das ist ja genauso para… dingsda, oder was hast Du vorhin gesagt, lieber Onkel? Das wird ja immer schöner, jetzt machen wir unsere Bände kleiner im Umfang und schon schrumpft die ganze Bibliothek zusammen? Wo soll das hinführen?“ Susanne war ganz aufgeregt, Äpfel und Nüsse längst vergessen.

Professor Wallhausen rieb sich vergnügt die Hände. Jetzt hatte er seine Zuhörer da, wo er sie haben wollte. Die einzige offene Frage für ihn war, ob das Bier noch reichen würde, um die Nerven seines guten Freundes, Redakteur Burkel, zu beruhigen.

„Macht Euch auf etwas gefaßt“, sagte er lächelnd. „Wir schauen gleich einmal, wo wir hinkommen, wenn wir die Bände weiter verkleinern. Zunächst jedoch halten wir folgendes fest: Wir haben durch die Verkleinerung des Umfangs nichts verloren. Bedenkt, dass bereits die 500 Seiten, die wir anfangs betrachtet haben, von uns völlig willkürlich festgesetzt waren. Nun sind es 50 Seiten. Auch hier gilt nach wie vor: Wenn dies nicht ausreicht, um ein ganzes Buch unterzubringen, dann steht eben die Fortsetzung in einem anderen Bande – sag mal, Suse, ist Max Burkel eigentlich der einzige, der hier etwas zu trinken bekommt?“

Nachdem Susanne auch ihm das Glas erneut gefüllt hatte, fuhr der Professor fort: „Wir werden nun einmal ganz radikal und nehmen an, daß jeder Band nur noch eine Seite umfaßt, also sozusagen ein Blatt Papier. Was folgt daraus? Es bleibt bei den 40 Zeilen mit jeweils 50 Zeichen oder Stellen, so dass wir nun pro Blatt oder Band genau 2000 Zeichen zur Verfügung haben. Das ergibt zehn hoch viertausend Bände, oder besser gesagt, Papierbögen, die wir nun noch benötigen. Also eine 1 mit 4000 Nullen, was immer noch eine sehr große Zahl ist, und auch hier reicht die Größe des Universums bei weitem nicht aus, wollte man alle diese Papierbögen zu einem Stapel aufeinanderlegen.“

Und er führte weiter aus: „Aber was ist mit den Inhalten der Bibliothek? Auch hier ändert sich, so verblüffend das klingen mag, eigentlich nichts wesentliches. Immer noch findet Ihr alles, was Ihr lesen wollt, in der Bibliothek wieder. Keine einzige Lesart ist gegenüber unserer ersten Version verloren gegangen. Der einzige Unterschied, der sich in der Praxis allerdings gravierend auswirken würde, ist, daß wir nun, zumindest für längere Werke, jede Menge Fortsetzungsbögen benötigen würden. Diese zusammenzusuchen dürfte allerdings eine Menge Arbeit sein.“

„Ha!“ rief Burkel plötzlich aus. „Mir scheint, wenn ich das alles bisher richtig verstanden habe, wir könnten dieses Spiel immer weiter treiben. Machen wir uns doch den Spaß und rechnen einmal aus, was passiert, wenn wir nur noch ein Zeichen auf einer Seite zulassen – oder bleiben wir am besten bei den Papierbögen.“

„Das kannst Du nun wirklich selber herausfinden“, sagte der Professor zu seinem Freund. „Oder, wenn Dir das Kulmbacher nicht bekommt, kann Suse es ausrechnen. Die Formel ist bekannt: Du nimmst die Anzahl der zulässigen Zeichen, in unserem Fall also 100, und setzt diese zur Potenz mit der Anzahl der Stellen pro Band – “

„Einen Moment“, hörte man Susanne rufen, „ich habs gleich – nein, das ist ja ganz leicht, das sind einhundert hoch eins, also genau 100 Bände – oder Blätter, wie Ihr es haben wollt!“

Frau Wallhausen, die sich bisher zurückgehalten, dafür aber bereits das eine oder andere Glas Wein getrunken hatte, fiel nun ein: „Und das ist nun von Deiner Bibliothek übriggeblieben! Nur noch einhundert Bände, die dazu noch nur aus einer Seite bestehen, welche obendrein nur noch ein einziges Zeichen enthält? Na, ich danke schön! Eine solche Bibliothek will ich nicht mal geschenkt haben. Die kann ich mir ja selber schreiben!“

Und Max Burkel schloß sich an: „Da steht ja auch nichts vernünftiges mehr drin. Keine ganzen Sätze mehr, nicht einmal Wörter! Da kann doch kein Mensch was mit anfangen!“

Der Professor fühlte sich nun leicht in seiner Ehre gekränkt. „Und mit unserer ersten Bibliothek konntest Du etwas anfangen? Bis Du überhaupt den ersten halbwegs sinnvollen Band gefunden hättest, wären viele Jahrhunderte vergangen und Du längst zu Staub zerfallen! Denke doch daran, was wir heute schon einmal gesagt haben: Nicht in der Universalbibliothek müssen wir suchen, sondern den Band, dessen wir bedürfen, uns selbst herstellen in dauernder ernster ehrlicher Arbeit! Und das gilt genauso für die Bibliothek, die wir uns zuletzt angeschaut haben. Lege die Zeichen, die Du benötigst, zusammen, und Du erhälst Deinen Text. Jeden beliebigen Text, den Du haben möchtest. Alle diese Bibliotheken, die wir heute betrachtet haben, dürfen sich mit gleichem Recht Universalbibliothek nennen. Der Zeichenvorrat ist endlich, die Menge der Bände ist ebenfalls endlich, doch Du kannst jeden Gedanken damit ausdrücken. Und damit sind wir zum Schluß doch noch im Unendlichen angekommen, denn die Gedanken sind frei – “

Schlußbemerkung: Man kann, wenn man möchte, die Sache noch weiter treiben und für die hier verwendeten 100 Zeichen eine Binärcodierung, z.B. ASCII, verwenden. Die Universalbibliothek besteht dann nur noch aus den Ziffern 0 und 1…

Dies wollte ich Laßwitz jedoch ersparen, da Bits und ASCII zu seiner Zeit (die Geschichte entstand 1904) natürlich noch nicht geläufig waren.

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